
Warum “Impfneid” kein Impfneid ist
Corona/Covid-19 und die Impfungen. Welche Begriffe assoziiert man derzeit spontan mit “Impfung”? Neben Biontech, Astrazeneca und Moderna? Neben Impfzentren, Thrombosen, Impfprivilegien und Priorisierungen? Es fallen einem außerdem Wörter ein wie: schleppend, Mangel – und Neid. Impfneid.
Der Begriff “Impfneid” macht sich breit und Nicht-Geimpften klebt er an, wie ein Kaugummi, auf das man nicht treten wollte.
Doch ist es wirklich “Neid”?
Meines Erachtens hat das Gefühl, das sich unter Nicht-Geimpften breit macht, nichts mit Neid zu tun.
Unwohl fühlt man sich nämlich nicht den vielen Geimpften gegenüber – den Senioren in den Pflegeheimen, dem Pflegepersonal, den Lehrern, den Menschen mit Vorerkrankungen und all denen, die bereits völlig zurecht eine Impfung erhalten haben, sondern denen, die “drängeln”, die sich “vorschummeln”, die das Recht etwas anders interpretieren und sich einfach unethisch verhalten. Punkt.
Es ist oft dieselbe Gruppe Mensch, die auf Behindertenparkplätzen parkt. Das schlimmste, das einem Behinderten dann widerfährt ist: er muss auf einem normalen Parkplatz parken, sich einen anderen Markt suchen oder er kann nicht einkaufen gehen. Das ist wirklich nervig und ungerecht – aber erstmal nicht lebensbedrohlich.
Dieselben Drängler oder Vorteilsbeschaffer setzen alles von der Steuer ab, das sich irgendwie dort reinschummeln lässt. Private Möbel, Handwerker oder hunderte von Geschäftsessen. Auch hier nehmen sie anderen etwas weg, aber das geht in der Masse unter und wird auch oft als Das-Machen-Ja-Alle-Kavaliersdelikt geführt.
In diesem Fall aber geht es um Menschenleben. In einer trüben Masse, die man nicht überblickt, von der man nur eine wegsehenwollende Ahnung bekommt, wenn man Berichte über Intensivstationen sieht.
Bertold Brecht sagte mal sowas wie: “Viele Tote sind eine Nachricht, ein Toter ist eine Katastrophe”. Genau! Wenn diejenige, die sich eine Impfung “erschummeln” dafür einen ihrer Freunde oder Verwandten auf die Intensivstation schicken würden, würden sie im Angesicht des Leids und des Gesehenwerdens vermutlich (oder hoffentlich) auf ihre Schummelei verzichten. Aber die Masse? Wer ist das schon!
Als das Impfen begann (auch mal ein Satz der Pandemie), wurden Senioren geimpft. Einige davon erhielten trotz Priogruppe 1 sehr spät (im April) erst Termine. Dann wurden viele meiner Freunde und Bekannte geimpft, die in Pflege- oder Sozialberufen tätig waren. Außerdem kamen die dran, die dem Risiko ausgesetzt waren wegen Vorerkrankungen einen schweren Verlauf zu haben.
Mal Hand aufs Herz: war da irgendjemand “neidisch”? Klar, wollen wir alle geimpft werden, ungeduldig waren sicherlich alle, aber neidisch?
Nein, das Gefühl des Nicht-Gönnens, mit dem ich mal diesen Neid-Begriff eigentlich übersetzen will, bezog sich überhaupt nicht auf Geimpfte, die “dran waren”.
Irgendwann begannen die Priorisierungsgruppen zu verschwimmen und irgendwann wurden immer mehr Menschen im eigenen Umfeld geimpft, die wie wir waren: jung, ohne zu pflegende Kontaktpersonen oder Vorerkrankungen, ohne Beruf, der einer früheren Impfung bedarf – halt die Risikoarmen. Und wenn man gefragt hat, warum sie geimpft wurden, so waren die Antworten nuschelnd oder stolz vorgetragen: man hatte ein Schlupfloch gefunden oder konstruiert.
Das Phänomen ist nicht neu. Wenn es nicht um Menschenleben ginge, wäre es zwar ärgerlich, aber wegsteckbar. Wie der Aufruf “das Buffett ist eröffnet” ja auch zu unmittelbaren Letztplatzsorgen führt. Die Schlangen an den Gates der Flughäfen sind auch nicht umsonst so lang. Selbst, wenn man garantiert einen Sitzplatz hat, garantiert seinen Teller befüllen kann, garantiert zu dem kommt, zu dem alle anderen auch kommen: es wird gedrängelt, sich schnell vorne eingefädelt – eben nicht einfach gewartet.
Hier aber nimmt es absurde Formen an. Klar rennt jeder, wenns im Kino brennt zum Ausgang und in der Panik werden Menschen niedergetrampelt. Aber hier? Es wird jeder seine Impfung bekommen, die die noch nicht dran sind, sind deshalb noch nicht dran, weil es Menschen gibt, die es nunmal gerade nötiger haben. Es geht hier überhaupt nicht um Neid, es geht nicht mal um Solidarität, es geht ausschließlich, einzig und allein um Gerechtigkeit.
Sicherlich ist diese Pandemie ungerecht, dass zu wenig Impfstoff da ist (anfänglich!) ist ungerecht und dass überhaupt priorisiert werden muss, ist sowieso ungerecht. Das System bedingt Ungerechtigkeit. Aber: es ist endlich. Es ist nicht leicht, dieses Warten, aber wenn alle sich einreihen, ist es doch viel entspannter. Am Stauende zu warten ist oft vor allem deshalb nervig oder aufreibend, weil man die bis-vorne-Fahrer sieht, die sich “noch schnell reinschlängeln” und damit die Wartezeit für die anderen unnötig verlängern.
Und daher möchte ich, als wartende Ungeimpfte aufräumen mit dieser leidigen Neiddebatte. Ich bin nicht neidisch. Ich bin froh über jeden Geimpften, weil sein Risiko minimiert wurde. Und froh, wenn ich dran bin. Und bedauere, dass sich so viele Menschen nicht einmal schämen. Und ich bin froh, wenn diese Debatte endlich vorbei ist .