
Vielredner*innen. Ohrendefizit oder Nehmerqualität?
Schon seit vielen Jahren fasziniert – oder beschäftigt – mich das Phänomen der Vielrednerei. Es gibt Menschen, die unsäglich viel reden und nicht zuhören – und schon gar keine Fragen stellen. (Im folgenden Text werde ich das Wort “Vielredner” als “Begriff” verwenden, der sowohl Vielredner, als auch Vielrednerinnen umfasst.)
Ich habe mich immer gefragt, warum es Menschen gibt, die mit gewissen Nehmerqualitäten sich Zuhörer einverleiben. Aber vielleicht dachten sie ja auch, sie nehmen nichts, sondern geben was? Und zwar total viel? Worte Worte Worte?
Wenn ich die Chance hatte, einem Vielredner zu begegnen, der zwischendurch geatmet hat (und zugegebenermaßen auch mal zuhörte), habe ich gefragt, warum er das Vielreden denn so tut und wie er sich und das Drumherum empfindet.
Die Antworten waren recht durchwachsen. Einige empfinden es gar nicht so, dass sie viel reden. Oder okay viel, aber doch nicht nur. Eine andere sagte, dass sie wisse, dass sie manchmal viel rede, aber so wäre sie halt und das würde einfach so aus ihr raussprudeln. Einer sagte, dass er einfach das Interessantere erzählen würde.
Also glauben Vielredner tatsächlich, dass das, was sie sagen, für andere zu 100% über (auch überaus längere) Zeiträume interessant ist? Haben Sie ein Ohrendefizit? Da ich mich zu den Ohrenstarken zähle, denen ununterbrochen Fragen einfallen und die wirklich sehr gerne in die Hirne anderer hineinkriechen, frage ich mich, ob die Vielredner so selten aktive, interessierte Zuhörer haben, dass nun zugelangt wird wie bei einer fulminanten Weihnachtsleibspeisenverspeisung. Oder sind sie einfach nur narzisstisch geprägt, unaufmerksam und völlig desinteressiert?
Das zumindest ist die Unterstellung, in die ich immer gerate. Vielleicht meinen sie es aber auch gar nicht so und denken sich: wieso erzählt sie nicht mal was richtig dolle lange am Stück? Vielleicht sollte man viel mehr fragen: “wieso redest du so viel?” – aber aus irgendwelchen Gründen fühle ICH mich dann unhöflich.
In einem Beitrag über Vielredner spricht die Autorin von “Verholzten”. Sie vertritt die Theorie: desto älter, desto viellaberig. Auch das ist mir schon aufgefallen. In meinem Umfeld handelt es sich dabei meist um ältere Frauen, während die Männer dieses Alters eher zu verstummen scheinen.
Ansonsten empfinde ich es so, dass die Vielredner in einer gefühlten Statistik geschlechtsegal auftreten.
Alle hinterlassen bei mir ein schales Gefühl. Ich vermisse Gesehenwerden, was dem Gehörtwerden gleich kommt und mag das Gefühl nicht, zum Auffangtopf für Gedankenblubber missbraucht zu werden, das im Grunde einem Worterbrechen gleich kommt und ich bin der Brecheimer.
Aber dennoch: mich fasziniert es und ich frage mich, woher diese Menschen die Legitimation nehmen, derart viel zu reden und derart viel bei sich zu sein. Sind es Narzissten? Sind sie als Kinder nie gehört worden? Gab es immer Probleme, wenn sie Fragen stellten und sie haben sich das abgewöhnt? Wenn man von der Theorie des inneren Kindes ausgeht, so schützt die Vielrednerei das innere Kind. Schau her, ich bin schlau. Schau her, ich bin interssant. Schau her, ich habe viel erlebt. Vielleicht warf man ihnen ja immer vor, dies nicht zu sein oder applaudierte zu sehr für ihre Redegewandtheit und ihren Geschichtenreichtum.
Und wissen sie eigentlich um die Gefühle, die sie beim Gegenüber auslösen? Vermutlich nicht, denn dann würden sie ja mal unterbrechen und ein paar Fragen an den anderen stellen. Oder ist es ihnen schlichtweg egal? Oder nehmen sie es wirklich so überhaupt nicht wahr, weil sie völlig – und zwar so richtig völlig – nur bei sich sind?
Worum geht es im allgemeinen und besonderen wirklich allen Menschen? Um Anerkennung, Gesehenwerden, Aufmerksamkeit, Wertschätzung, Bestätigung und Lob. Und diese Dinge werden quasi krampfhaft abgeholt, während sie genau dieses dem Gegenüber komplett verweigern. Es ist ein Phänomen.
Nun denn. Dennoch mag ich viele dieser Vielredner – oder bin mit ihnen mehr oder weniger unfreiwillig verwandt. Und ich überlege, was es über mich aussagt, dass ich Ohr und Fragensteller bin, Applaudeur und Wackelkopf. Wenn ich Anerkennung über Zuhören und Fragenstellen erhalte – bin ich dann vielleicht sowas wie ein Co-abhäniger Vielredner?
Wer auf die vielen Fragen eine Antwort – oder Geschichten – hat, der möchte mich gerne zulabern 🙂
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