
Masse und Macht in Coronazeiten
Elias Canetti schrieb 1960 ein dickes Buch. Der Titel lautet “Masse und Macht”. In diesem Buch beschäftigt sich Canetti – natürlich abgesehen von Masse und Macht – mit dem “Überleben”. Es gibt Zitate, die man nie vergisst und in diesem Buch stand ein solches:
“Der Augenblick des Überlebens ist der Augenblick der Macht”.
Elias Canetti, Masse und Macht, 1960
Ich finde, das ist ein Wow-Satz.
Er meinte damit, dass man in dem Moment, indem man vom Tod eines Menschen erfährt, zwar erschrocken ist, aber sogleich auch froh, nicht selbst der Gestorbene zu sein. Er geht sogar über “froh” hinaus. Er meint, dass es ein Macht-Moment ist. Weil man steht, während der Tote liegt, also ein Moment des Triumphes.
Kürzlich erfuhr ich von der Krebserkrankung eines Freundes. Und nach dem ersten Schrecken dachte ich: aber er hat doch so gesund gelebt, ich lebe viel schlechter. Ich habe also sofort den Vergleich herangezogen und im Grunde meine Chancen auf eine Krebserkrankung einzuschätzen versucht. Ich war bei mir. Das mag menschlich sein, aber dennoch beschämend.
Und gleiches passiert nun auch in diesen merkwürdigen Coronazeiten.
Canettis Buch beginnt mit folgendem Satz
“Nichts fürchtet der Mensch mehr als die Berührung durch Unbekanntes“.
Elias Canetti, Masse und Macht, 1960
Tja, wenn das mal nicht ein Satz mit Punkt ist. Corona ist unbekannt, unsichtbar und uneinschätzbar.
Und so gibt es die, die das Unbekannte nicht ganz so schlimm finden und sich sicher sind, dass sie das ganze schon überleben werden. Und dann gibt es die, die Angst haben und verzweifelt sind, weil sie Angst haben, nicht überleben zu können.
Wenn man jedoch von “Überleben” in Coronazeiten spricht, so spricht man nicht zuletzt auch vom wirtschaftlichen Überleben. Und auch hier setzt das ein, was Canetti mit dem Augenblick der Macht meint. Die, die überleben, die die wirtschaftlich nicht scheitern, triumphieren, in vollendeter Erleichterung oder Arroganz über die, die noch nicht wussten, dass sie keinen pandemiesicheren Job ausüben.
Der Gegner ist dann vielleicht gar nicht mehr der Virus, sondern die Entscheidungen der Regierung zur Eindämmung. Und so werden Stimmen laut, die die Frage aufwerfen, wer eigentlich überleben soll: die Wirtschaft oder der Mensch. Frei nach Brechts “Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral” würde dies bedeuten: “erst wenn niemand pleite geht, kann man Menschenleben retten”.
Dass der Mensch mehr Angst hat, dass sein eigenes Leben unmittelbar gefährdet ist, als das von anderen zeigt sich recht konträren Umgang mit dem Klimawandel und Corona. Himmel, was ginge es dem Klima gut, wenn mit derselben Verve diese Gefahr versucht worden wäre zu bannen.
Aber zurück zu Canetti und dem Überleben. Und dem Phänomen der Masse. Er sagt nämlich:
“Es ist die Masse allein, in der der Mensch von seiner Berührungsfurcht erlöst werden kann”.
Elias Canetti, Masse und Macht, 1960
Hah! Und da haben wir sie, die Querdenker (ein viel zu positives Wort dafür finde ich). Angst verbindet. Oder sogar noch doller: in der Masse verliert der Mensch die Angst – in diesem Fall vor dem Tod durch den Virus. Das Individuum verschwindet in der Masse – das Chaos nimmt ab. Eine Eigenschaft einer solchen Masse ist laut Canetti zudem, dass es ein Pendant bracht. Einen Gegner, den es zu zerstören gilt, um das eigene Überleben zu sichern. Die Coronamaßnahmen. Die Masken. Die Abstände. Die gewaschenen Hände.